In Schönheit leben oder sterben?

„Ich weiß weder, was das Schöne oder das Schönere ist, noch will ich etwas verschönern. Die Resultate meiner Arbeit sehe ich als Reflexionen über Vermittlung und Transformation der Vorstellung vom Schönen .... Begründungen und Bedingungen dafür sollen durch die glatte Oberfläche meiner Objekte scheinen, für die mir anziehende Qualitäten ebenso wichtig sind wie das Abstoßende“, so Gerold Tusch selbst über seine Arbeit. 

Im Zuge der Vorbereitung einer Ausstellung im MAK, die den Stellenwert der Gegenwartskeramik in Österreich hinterfragte, habe ich Gerold Tusch kennen gelernt. Ton ist ein Material, das ihm „sympathisch“ ist, das ihm „liegt“, wie er selber betont. Es ist der ideale Werkstoff, um seine Ideen umzusetzen.

Die hohe Kunst der Porzellanerzeugung nahm in Europa mit der Gründung der ersten Porzellanmanufaktur in Meissen 1710 ihren Anfang. 1718 folgte die Wiener Porzellanmanufaktur. Lang war das Arkanum, das Wissen um die Zusammensetzung der Porzellanmasse, eines der bestgehüteten Geheimnisse. Daher oft auch als weißes Gold bezeichnet. Bald produzierte man kleine Figurengruppen, Dosen, Schalen, Kännchen, Tassen ... bunt staffiert, bemalt, vergoldet oder weiß glasiert.

Wenn Tusch auch nicht in Porzellan arbeitet, so nimmt er doch dieses historische Formengut in seinen Arbeiten auf und zitiert es in seinen raumgreifenden Wandinstallationen und Kleinskulpturen aus meist niedrig gebranntem Ton. Seine Arbeit liegt in der Geschichte der Keramik begründet, aus der heraus sein Werk entsteht. Die Technik ist über die Jahrhunderte die gleiche geblieben. Tusch beherrscht sein Handwerk, spielt mit Oberflächen, Glasuren, Farbnuancen,  durchbricht aber gleichzeitig die Grenzen dieser materiellen „Vorbestimmung“. Er bedient sich einer Sprache aus dem Bereich des Dekors der angewandten Kunst vergangener Jahrhunderte, spielt auf kunsthistorische Veratzstücke an. Vasenähnliche Objekte erinnern an Prunkvasen aus historischen Park- und Gartenanlagen, ausufernde Wandarabesken an Porzellanzimmereinrichtungen des Rokoko.

Der Begriff der Schönheit war im Rokoko mit seinen überladenen Dekoren wohl zentral, Dekor war Selbstzweck und Repräsentationsmittel. Tusch nimmt in seiner Arbeit Mon petit poudrier Bezug auf die Anfänge des europäischen Porzellans, auf eine Zimmereinrichtung, die in der permanenten Schausammlung des MAK installiert ist. Das so genannte Dubsky-Zimmer, aus dem Palais Dubsky in Brünn,  ist überzogen mit reichem Rokokoschnitzwerk und Holzkonsolen, die Rahmen und Bühne für unzählige Porzellangefäße der Wiener Porzellanmanufaktur Du Paquier bilden und gemeinsam ein dekoratives Ganzes ergeben. Eine solche Einheit bilden auch die Elemente in Mon petit poudrier.  Zart glasierte Arabesken ranken sich die Wand entlang, rahmen ein und stellen dar, bilden Struktur und Präsentationsfläche für bizarre Keramikobjekte, die auf kleinen Stoffkissen ruhen. Tusch befreit das Ornament aus seinem ursprünglichem Zusammenhang, so dass seine Bedeutung, sein Sinn und Zweck hinterfragt wird. Das Ornament wird zum Ausdrucksmittel einer Metasprache, die sich mit Form beschäftigt. Der Künstler selbst meint zu seinem Werk: „Wie die Beschäftigung mit dem Ornament, seine Autonomisierung zum einen und die Zweckgebundenheit einer Formschöpfung andererseits ist auch die Frage der Präsentation und Repräsentation für mich interessant.“ Freie Flächen werden durch arabeske Rahmenstrukturen begrenzt, gleichzeitig wird der Rahmen selbst zum Kunstgegenstand und Zentrum des Interesses, Bedeutungen widersprechen und überlagern einander. Ein Schritt weiter führt zum Begriff der Repräsentation, die der Künstler als permanente Bedeutungsebene in der Kunstvermittlung und Rezeption in sein Werk eingeschrieben wissen will.

Das Schöne und das dekorative Moment in der Kunstgeschichte zitiert Tusch immer wieder aus seinem Fundus von barockem Blattwerk und Rocailleornamenten. Und zeigt auf, wie sich das gestalterische Element selbst ad absurdum führen kann: Der Titel seiner Arbeit Vase, sich im Dekorum auflösend spricht für sich. Wulstige Formen des Keramikobjekts gehen über in perforierte Teile, das Dekor wird so weit übersteigert, bis als letzte Lösung nur die Auflösung bleibt. Auch der Werktitel REINE LUST OBJEKTE ist treffend gewählt: Das Ornament als rein schmückendes Vorbild ohne inneren Gehalt wird hier aufgeladen mit sinnlicher Erfahrung, die Wandarabesken von Tusch erinnern an Früchte oder verfremdete Körperteile in haptisch glänzender, fleischfarbener Oberfläche. Historische Vorbilder erfahren neue Bedeutung: Die „Fêtes galantes“ beispielsweise, die im Rokoko übliche Darstellung verliebter Paare, oft erotischer Natur in Form von Schäferstücken, finden wir in dieser Zeit sowohl als Dekor auf Keramikgefäßen als auch in Form figuraler Darstellungen. Die lieblichen, mehr oder weniger versteckt erotischen Anspielungen der Rokokozeit mutieren bei Tusch zu reiner Form. Die bei ihm offensichtlich erotischen Anspielungen werden durch das Material Ton, das wie für diese Arbeiten geschaffen zu sein scheint, realisiert. In Verbindung mit der glänzenden Glasur finden wir uns inmitten einer wunderbaren Symbiose von Inhalt, Form und Material. Von der Faszination des Materials gefangen, erinnern die raffiniert glänzenden Oberflächen der Glasur an menschliche Haut und lassen die amorphen Formen lebendig erscheinen. Diese wirken als ob sie sich noch im Entstehungsprozess befinden würden, noch in Bearbeitung wären. Wirken wie aus noch feuchtem Ton, als ob sie noch formbar wären oder sich selber weiterformen, als ob sie wachsen, wuchern würden. 

Die Anfänge der Keramik waren freilich anderer Natur: Neben der praktischen Bedeutung für die Zubereitung und Aufbewahrung von Nahrung wurde gebrannter Ton zu kultischen Zwecken in Form von Ritualgefäßen oder Bestattungsurnen verwendet.

Auch hier sind Referenzen im Werk des Künstlers zu finden. Einige Arbeiten von Gerold Tusch erinnern an Ritualobjekte mit sexuellem Fetischcharakter: Hinter dem harmlosen Titel Traum-männlein lauert das Sexuelle, Abgründige, Alptraumhafte. Die harte Oberfläche der weißen Keramik bildete der Künstler zu weichen Formen, auf denen verwandelte, verunstaltete Stofftiere oder deren Überreste ruhen. Das Kinderspielzeug mutiert zu Sex-Toys fragwürdiger Verwendung für Erwachsene. Immer wieder tritt bei Tusch das Abgründige und Verfremdete auf als neuer Ausdruck von „Dekoration“ –  der „kleine Tod“ in Schönheit.

Nach 1945 beeinflussten Kommerzialisierung, industrielle – und rationelle – Fertigung die Entwicklung der Keramik. Die keramische Skulptur wich solcher aus Stein und Metall, Kleinplastiken aus Keramik verkamen oft zu Nippes. An Zimmereinrichtungen mit bizarren Nippes erinnert auch home & garden, eine Installation, die mit Wohnelementen wie Spiegeln, Konsolen und Tapeten spielt. Und wieder: organische „Nippes“ von verstörender Ähnlichkeit zu Organen oder Körperteilen. Die Installation mit dem einladenden Titel make yourself comfortable schließt hier an: Vor einer ornamental gestalteten Tapete ruhen auf gepolsterten Wandkonsolen unheimliche Formen vielleicht aus unserer Welt, vielleicht aus einer anderen. Der Betrachter wird dazu aufgerufen, es sich bequem zu machen – ein Ding der Unmöglichkeit angesichts dieser andersartigen Vertrautheit. 

Gerold Tusch versteht es so, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu fesseln, ihn anzulocken, zu verstören und in dieser Verstörung endgültig sein Interesse und den Betrachter selbst zu wecken. Das wandelbare Material Ton wird bei Tusch zu einem Medium, das durch eigenständige Aussage wirkt. 

Lange Zeit war die Keramik aus der zeitgenössischen Kunst verschwunden gewesen. Die Vergabe des renommierten Turner Preises im Jahr 2003 an den Künstler Grayson Perry, der sich in seinem Werk vor allem mit der Gefäßkeramik beschäftigt, ist als Zeichen zu sehen, dass Keramik wieder als zeitgemäßes Medium verstanden wird. Auch der Künstler Gerold Tusch wird mit seiner Arbeit zum Teilnehmer und Mitgestalter dieser neuen Diskussion über Keramik.


Katja Miksovsky-Levenitschnig, 2005